Lübeck d. 04.02.2021

Ein Bericht über den Boso Tag von Johann

Boso-Tag – Schauspieler on the road

Die Haustür fällt hinter uns mit dem bekannten Knall ins Schloss. Draußen ist es dunkel und kalt. Noch ein wenig verschlafen steigen Amon und ich ins Auto, schon brummt der Motor und Minuten später knattern wir über die Landstraße von Lübeck nach Ratzeburg. Es ist 07:30, der beheizbare Autositz ist angenehm warm, im Radio laufen Nachrichten: Die Gleichen wie immer nur ein bisschen anders. Wir wechseln den Sender, um wieder Musik zu hören. Seitlich von uns funkelt schon die große, glatte Fläche des Ratzeburger Sees in der Morgendämmerung. Egal wie oft wir diese Strecke fahren, jedes Mal staunen wir von neuem wie besonders schön die Landschaft hier ist. Amon freut sich auf die Schule, ich freue mich auch. Außerdem bin ich auch ein bisschen aufgeregt. Heute ist nämlich, wenn man so will, mein erster Tag an der Freien Schule Ratzeburg, in die Amon bereits seit dem vergangenen Sommer geht. Somit ist er im Vergleich zu mir ein alter Hase, der genau weiß wie ein Schultag dort abläuft. Noch eine letzte Kurve und da rollen wir bereits über das Kopfsteinpflaster vors Gebäude und steigen aus.

Während ich noch meine Jacke schließe, ist Amon bereits um die Ecke in die Schule verschwunden. Bis zu unserer Rückfahrt am Nachmittag sollten sich unsere Wege nur wenige Male kreuzen. Meist sah ich nur die wehenden langen Haare seines Kopfes an mir vorbeifliegen. Noch andere Kinder steigen aus Autos, verabschieden sich von ihren Eltern und verschwinden um dieselbe Ecke wie Amon. Nun setze ich mich in Bewegung und tu es ihnen gleich. Husch, bin auch ich um diese Ecke verschwunden und in der Schule.

Hier wuselt alles noch ein wenig herum, sortiert und findet sich. Dann ertönt der helle Ton einer Klangschale und alle kommen in dem untersten Raum, dem Hafen, zusammen. Dort werden Carsten und ich den Kindern vorgestellt. Heute ist nämlich „Boso-Tag“. Das ist der Grund, weswegen Carsten und ich überhaupt da sein dürfen. Wir werden den Kindern unsere Berufe vorstellen und dann mit ihnen zusammen ein entsprechendes Projekt machen. Carsten ist Designer für Magazine, Websites und vieles mehr und ich bin Schauspieler. Nach den Morgenkreisen erwarten Carsten und ich die Kinder ein Stockwerk höher in dem Dschungel-Raum. Erfreut, dass so viele kommen und interessiert sind, fangen wir eifrig an zu erzählen und die Kinder stellen Fragen bis es nichts weiter zu sagen, fragen und zu erklären gibt und Taten warten. Carsten bleibt mit denen, die einen Schulflyer designen wollen im Dschungel und ich gehe mit den anderen, die Lust haben sich eine Szene auszudenken und zu spielen noch ein Stockwerk höher in die Aula. Als wir die Türe öffnen, wird hier schon mit vollem Einsatz und guter Polsterung ein kleiner Kampf geprobt, so scheint es mir. Das lässt sich später bestimmt gut in unsere Szene einbauen. Die drei wollen auch sofort mitmachen. Und nun geht es also los.

Wir fangen mit ein paar Kennlern- und Theaterspielen an. „Wer still steht, erfriert“ heißt das erste. Dabei laufen wir immer schneller werdend durch den Raum und werfen uns einen Ball hin und her. Wer fängt, muss seinen Namen rufen, sodass alle ihn verstehen und umgehend den Ball weiterbefördern. Immer in Bewegung bleiben, ist die Regel. Denn wer stehen bleibt erfriert. Aber zum Glück ist keiner erfroren und wir können aufgewärmt das nächste Spiel machen. Hierzu setzen wir uns im Kreis auf den Boden und erfinden in mehreren Runden eine Ein-Wort-Geschichte. Es geht reihum und jeder darf immer nur ein Wort sagen. Je weniger Zeit man zum Nachdenken hat desto besser. Das Tolle hierbei ist, so absurd und zusammenhangslos die einzelnen Wörter auch sein mögen, sie ergeben immer einen größeren Sinn, der meistens sehr witzig ist.

Danach fangen wir an uns für jeden eine Figur zu überlegen, die er spielen möchte und aus diesen Charakteren eine erste Geschichte zu spinnen. Nahezu alles was wir in der Aula finden können, wird als Kostüm oder Requisit verwendet. Am Ende haben wir eine Szene, in der eine alte, sehr vermögende Oma, beschützt von ihrem kompromisslosen, knallharten Bodyguard ihren allabendlichen Spaziergang im Park macht und dann, wie so oft, von den äußerst verschrobenen und aufdringlichen Nervensägen Piff und Paff belästigt wird. Piff und Paff haben immer sehr viel zu sagen. Nur nichts davon versteht man, da die einzigen Wörter, die sie sprechen ihre eigenen Namen sind. Die Oma und ihr knallharter Bodyguard sind mit den Nerven inzwischen völlig am Ende. Dieser schwache Moment wird von zwei Räubern, die in ihrem Busch hocken und nur darauf gewartet haben, sofort ausgenutzt. Mit einem großen Sprung geht es auf die Oma los. Es ist stadtbekannt, dass sie ihre wertvollsten Juwelen und Schätze immer in ihrer großen, blauen Handtasche bei sich trägt, anstatt sie unbewacht in ihrer Villa mit Seegrundstück zurückzulassen. Doch als wäre das nicht genug ist auch noch der Nudelvorrat des cholerischen, immer-hungrigen Nudelfressers Nudolpho Spirelli am Ende, der direkt neben dem Geschehen auf einer Parkbank sitzt und frisst. Der Hunger und die Wut brechen schlagartig aus ihm raus wie aus einem Vulkan. Niemand, der hier Anwesenden weiß was in einer Solchen Situation zu tun ist, denn keiner hat zufällig ein paar Nudeln al dente in seiner Hosentasche. Und woher jetzt Nudelnachschub beschaffen? All das ist in diesem besonderen Park, in dieser besonderen Stadt abends nichts Außergewöhnliches. In der Regel haben alle so großen Respekt vor dem knallharten Bodyguard, dass es für ihn kein Problem ist professionell solche Situationen zu beenden. Doch heute ist nicht alle Tage. Vielleicht hatte die Hitze einfach die Gemüter zu sehr in Wallung gebracht. Jedenfalls lassen sich die Räuber nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen und sind zu allem bereit, so dass die Situation eskaliert und sie mit der Tasche entkommen. Und auf diese Weise endet unsere erste Szene. Nach dieser Entladung von Kräften und Energie brauchen erst mal alle eine kleine Pause.

Nach zwei ebenfalls knallharten Tassen Kaffee gehe ich wieder nach oben in die Aula. Der Großteil der Kinder ist nicht mehr da und so machen wir zu viert ganz in Ruhe weiter. Um nach so einer Pause wieder in Fahrt zu kommen, fangen wir mit einer kleinen Übung an, die ich noch aus der Schauspielschule kenne. Ich glaube sie hieß Gefühlsquadrat. Hierfür haben wir auf dem Boden ein großes Kreuz markiert, sodass sich vier Quadrate ohne Außenbegrenzung ergeben. Jedes Quadrat steht für ein Gefühl, in unserem Fall: Wut, Angst, Trauer und Freude. Dann wählt man sich einen beliebigen Satz oder Gedanken, mit dem man sich in die unterschiedlichen Gefühlsquadrate begibt oder von außen hineingeschickt wird. Es wird versucht die zugeordneten Gefühle zu erleben oder spielen, im tollsten Fall vermischt sich beides. Das hier Erlebte sollte uns später für unsere nächste Szene als Erfahrung und Inspiration nützlich sein.

Immer noch zu viert überlegen wir uns wieder, was jeder spielen möchte. Diesmal haben wir es gleich mit zwei schrulligen Omas und einem ungestümen Kater, der eine Vorliebe für Blumenbeete und eine unruhige Blase hat, zu tun. Auf die schmale Bühne in der Aula bauen wir uns zwei nebeneinanderliegende Balkone. Der eine gehört der Oma Brigitta und der andere Ilsegard. Die beiden haben natürlich ein gehöriges Problem miteinander und das heißt Kater Kratzo von Piss. Die Kinder improvisieren und wir denken und spinnen herum und bauen uns auf diese Weise Schritt für Schritt eine Szene. Wenn wir Lust darauf haben oder es für nötig halten, spielen die Kinder die Szene vom Anfang bis zu dem Punkt, an dem wir gerade sind und sehen so wie das Neu-ausgedachte mit dem Anderen zusammenpasst und was sich vielleicht spontan im Flow darüber hinaus ergibt. Herausgekommen ist auf diese Weise folgende Geschichte: Es ist ein milder Nachmittag im Sommer. Nichts los, nur ein sanftes Lüftchen weht ziellos umher. Die Balkone sind leer. Da schleicht sich Kater Kratzo von Piss durch die angelehnte Tür von Oma Brigitta auf den Balkon und tappst in aller Seelenruhe hinüber auf den Balkon von Oma Ilsegard. Denn dort drüben wartet ein wahres Paradies auf ihn: Kübel und Kästen voller Erde und Blumen und in der Fremde zu urinieren macht bekannter Maßen viel mehr Spaß als auf dem heimischen Balkon. Die Luft ist rein und Kratzo von Piss legt genussvoll los. Niemand, der ihn stört und alles hier wartet nur auf ihn. Er wühlt und pinkelt sich in einen wahren Rausch. Erde fliegt durch die Luft, Stängel und Blüten hinterher. Die Zeit vergeht und mit ihr alle Ordnung auf dem Balkon. Ilsegard, die eben noch in ihrer Küche genüsslich einen Grießpudding verspeiste, fällt glatt der Löffel aus der Hand als sie, um etwas frische Luft zu schnappen, die Balkontür öffnet und das Unheil erblickt. Ein Schrei fährt aus ihr wie zersplitterndes Glas und holt sogar Kratzo von Piss mit einem Paukenschlag aus seinem tobenden Glück, der sich sofort über den heimischen Balkon ins Innere der Wohnung verzieht. „Meine Blumen, meine schönen Blumen“, beweint sie in einer Dauerschleife das Unglück. Mitten in der Verwüstung stehend, steigt ihr ein beißender Geruch in die Nase. Es stinkt bestialisch nach Katzenpisse. Nicht nur Tränen sondern auch Übelkeit steigen in ihr auf. Das ist nicht das erste Mal, dass das passiert. Drüben reißt ihr pausenloses Gejammer Brigitta, die um diese Uhrzeit immer ihren Mittagsschlaf macht, aus wohligen Träumen. Noch schlaftrunken wandert sie durch die Wohnung Richtung Balkon, um nachzusehen was los ist. Dabei tritt sie von Piss auf den buschigen Schwanz, der daraufhin fauchend in die Höhe schießt. Sie tritt aus der offenen Balkontür und begreift, was hier wieder Mal vorgefallen sein muss. Gerade kommt ihr die Idee einfach wieder rein zu gehen und das Ganze auszusitzen, da hat Ilsegard sie entdeckt und fluchend in die Mangel genommen. „Meine Blumen, meine schönen Blumen“, weint diese immer noch in einer Tour. Wie oft gab es solchen Ärger schon und meistens war überhaupt nichts zu sehen gewesen, nur selten lag mal ein bisschen Erde verstreut oder war eine Blume entwurzelt. In Brigittas Augen stellt sich Ilsegard mit ihren Blumen eh viel zu sehr an und macht gerne aus einer Mücke einen Elefanten. Deshalb kam ihr nun der Gedanke, dass es vielleicht das Beste ist, gar nicht auf Ilsegards Überempfindlichkeit einzugehen und den Elefanten einfach wie eine Mücke zu behandeln oder gar völlig zu ignorieren. So entgegnet Britta ihr ganz dreist: „Was ist denn mit deinen Blumen?! Die sind doch tadellos! Du hast wie immer einen ganz wunderbaren Balkon. Mach‘s gut, ich leg mich jetzt wieder hin.“ Für einen Moment hält Ilsegard irritiert inne, doch das plumpe Manöver von Brigitta ist natürlich zu durchschaubar. „Du gehst nirgendwo hin, mein ehrenwertes Fräulein. Dein inkontinenter, tollwütiger Kater muss zu Rechenschaft gezogen werden! Dieses kranke Vieh gehört eingeschläfert!“ Das kann wiederum Brigitta nicht auf sich sitzenlassen. Wenn es um Kratzo von Piss geht, versteht sie keinen Spaß. Die Omas treten sich angriffslustig gegenüber, nur die Brüstung der Balkone trennt sie. Flüche, Beschimpfungen drohende Zeigefinger und Gehstöcke fliegen zwischen ihnen hin und her. Und wie sie da so ganz in ihren Zorn vertieft voreinander stehen, schleicht sich von Piss erneut auf den Balkon, schlängelt sich durch das Geländer und macht glücklich da weiter, wo er vor ein paar Minuten gezwungen war aufzuhören. Der Streit wird noch eine ganze Weile fortgeführt ehe abrupt eine schockierte Stille einsetzt und die Omas ihre Blicke wie Reißzwecken auf den gedankenverlorenen Kater heften. Jetzt reicht es Ilsegard. Das ist zu viel für sie. Die Gedanken, die ihr jetzt durch den Kopf jagen, sollte man nicht in Worte fassen. Sie nimmt den Gehstock in die Hand und geht mit allem, was ihr zur Verfügung steht auf den Kater los. Brigitta schreit hilflos, dass sie das arme Tier doch in Ruhe lassen solle, aber es nützt alles nichts.  Der Kater entkommt mit letzter Kraft, verfolgt von hasserfülltem Fluchen, rüber auf den sicheren Balkon, wo er sich verängstigt in eine Ecke verzieht. Bestürzt stürzt Brigitta zu ihrem geliebten Haustier und nimmt von Piss lzärtlich in ihre schützenden Arme. Auf dem Boden kniend, kullern ihr Tränen über die faltigen Wangen. Hilflos musste sie zusehen und konnte rein gar nichts tun. Als die immer noch fluchende Ilsegard sieht, was sie soeben angerichtet hat, wird ihr Bewusst, welcher Teufel sie geritten haben muss. Wenn es um ihre geliebten Blumen geht, versteht sie keinen Spaß. Doch soweit wie jetzt sollte es natürlich niemals kommen. Sie packt ein unerträglich schlechtes Gewissen und der geschundene Kater tut ihr sehr Leid. Sofort entschuldigt sie sich bei Brigitta und beteuert das Geschehene wieder gut machen zu wollen. Brigitta, die dem inzwischen schon wieder schnurrenden Kater Kratzo von Piss den dicken Bauch krault, ist von Ilsegards ungewohnter Menschlichkeit und Reue nahezu ergriffen. Sie steht auf, bringt den Kater in die Wohnung, geht auf Ilsegard zu und die beiden vertragen sich in der Mitte. Mit Hilfe eines Stuhls klettert Brigitta waghalsig hinüber, um Ilsegard beim Aufräumen zu helfen. Es stinkt wirklich bestialisch und beide müssen sich die Nase zuhalten, während sie einen Putzplan besprechen.

An dieser Stelle hören wir auf zu Proben, weil wir denken, dass die Szene jetzt ein Happy End hat und fertig ist. Doch da öffnet sich ein paar Mal die Aulatür und Kinder kommen herein. Zuerst haben wir Zuschauer und spielen das Geprobte vor, doch dann kommen immer mehr und wollen mitmachen. Eine tolle neue Energie entsteht und so viele Ideen stehen im Raum, dass es schwer fällt sich für eine oder ein paar zu entscheiden. Jetzt legen wir richtig los und es ist tierisch lustig und macht Spaß.

In kürzester Zeit bauen wir die Szene noch ein ganzes Stück weiter und verpassen ihr ein anderes Ende. Gerade haben Brigitta und Ilsegard angefangen den Balkon aufzuräumen. Zwei Mal wurde mit dem Besen Erde zusammengefegt und drei unversehrte, herumliegende Blümchen wieder eingepflanzt, da schellt es drüben bei Brigitta an der Tür. Brigitta will schon den Besen niederlegen, da trifft sie ein tief enttäuschter Blick von Ilsegard. Sie kann hier jetzt nicht weggehen, also fegt sie weiter. Doch das Klingeln hört nicht auf, die Abstände dazwischen werden sogar immer kürzer und verschwimmen schließlich ganz zu einem durchgehenden, schrillen hohen Ton. Was für ein armer Irrer klingelt auf diese Weise mittags bei einer alten Dame, geht es Brigitta verägert durch den Kopf. Und da fällt es ihr wieder ein. Ihre Enkelkinder! Sie waren doch heute nach dem Mittagsschlaf verabredet. Sie kann hier jetzt nicht bleiben. Sie muss den Kindern die Türe öffnen. Kurz und schmerzlos lässt sie den Besen fallen und hüpft, beinahe wie in jungen Jahren, über die beiden Geländer mit eingehaktem Stuhl zu sich hinüber. Sie flitzt durch den Flur zur Tür und tritt dabei erneut dem Kater auf den buschigen Schwanz. Sie schiebt den Sicherheitsriegel zur Seite, drückt die schwergängige Klinke hinunter und öffnet  schwungvoll die mächtige Wohnungstür, sodass ein Windzug Kratzo von Piss durchs Fell fegt. Da stehen ihre drei Enkelkinder mit ihrem Kater Flauschi, der eher einem kugelrunden Fellknäuel ähnelt als einem Tier. Sie haben Flauschi an einer speziellen Katzenleine, die sie ihm in der Wohnung abnehmen. Flauschi und von Piss verstehen sich unüblicher Weise für zwei Kater blendend mit einander. Sie sind Brüder und wurden vor ein paar Jahren Brigittas Tochter Birgit von einem Bauern aus der Umgebung geschenkt. Da Birgit zwei Kater zu viel waren und die Kinder Flauschi seines pompösen Fells wegen lieber mochten, kam der nicht sehr schöne und leicht verhaltensauffällige Kratzo von Piss zu Brigitta. Die Kinder hatten den Tieren jene Namen gegeben und bestanden darauf, dass sie diese auch behielten. Kratzo und Flauschie sind wahrlich ein Herz und eine Seele. Wann immer sie zusammen sind, teilen das Futter und schlafen eng aneinander gekuschelt überall, wo es warm und weich ist. Wenn die Enkelkinder zu Besuch kommen, hat Oma Brigitta mit Sicherheit etwas zu Naschen parat. Dieses Mal gibt es Kekse und Honigmilch. Brigitta bittet die Kinder sich an den Esstisch zu setzen und verschwindet auf den Balkon. Selbstverständlich hat sie Ilsegard nicht vergessen, die inzwischen ganz alleine in Windes Eile beinahe alles wieder in Ordnung gebracht hat. Sie wollte sie ja nicht im Stich lassen oder sich vor der Arbeit drücken. Was soll man denn machen, wenn die Enkel vor der Tür stehen? Also versucht Brigitta die erneuten Wogen zu glätten, indem sie Ilsegard zu sich auf eine Honigmilch mit ihren Enkeln einlädt. Überraschender Weise nimmt Ilsegard hoch erfreut an und klettert umgehend, mit Brigittas Hilfe und einem Beinahe-Sturz aus dem dritten Stock in die Tiefe, zu ihr herüber. Es ist eine illustre Runde und es gibt viel zu erzählen, sodass niemand bemerkt wie beide Kater sich auf den Weg hinüber zu Ilsegard machen. Und als das kleinste Enkelkind sich gleichermaßen auf den Weg macht, um Flauschi und von Piss verbotener Weise etwas von den Keksen und der Honigmilch abzugeben, sie aber nirgends finden kann und zu guter Letzt auf dem Balkon nachschaut und erschrocken um Hilfe ruft, weil beide Kater unerreichbar auf einem anderen Balkon sind, ist es schon lange zu spät. Alle stürmen hinterher und Ilsegard bricht unter Tränen zusammen als sie sieht, was schon wieder passiert ist. Was vorhin schon schlimm genug war, ist jetzt sogar doppelt so schlimm. Brigitta scheucht die Kater in heftiger Strenge dort weg, zurück auf ihren Balkon und in die Wohnung. Und jetzt kümmern sich erst einmal alle ganz liebevoll um Ilsegard, die nahe dem Nervenzusammenbruch zu sein scheint. Als sie sie etwas beruhigen können, gehen alle gemeinsam wieder hinein, um sich ganz dem süßen Kaffeekränzchen hingeben zu können. Doch ein Unglück kommt selten allein und zwei Kater bedeuten doppelte Pein. Flauschi und von Piss liegen regungslos auf dem Esstisch. Die Kekse aufgefressen, die Tassen umgestoßen und leer. Klarer Fall von Überfressen oder sogar einer allergischen Unverträglichkeit. Die Tierärztin muss umgehend herkommen. Brigitta greift zum Hörer und im gleichen Moment betritt die Tierärztin die Bühne. Untermalt mit tiefen, regelmäßigen Trommelschlägen und ihrem eigenen Gesang schreitet die Tierärztin würdevoll durch den Raum, begutachtet die beiden tierischen Patienten, wendet ihren geübten, hoch professionellen Kitzelgriff an bis die Kater wieder zu sich kommen und sich in riesigen, nicht aufhören wollenden Fontänen übergeben müssen. Alles muss raus. Die Arbeit ist getan. Und so wie die Tierärztin aufgetreten ist, tritt sie auch wieder ab. Zurück bleiben zwei kranke Kater, zwei erschöpfte Omas, drei aufgekratzte Enkelkinder und jede Menge Verwüstung und Gestank. Doch was macht der Mensch, wenn er sich im Chaos wiederfindet? Richtig, er schafft Ordnung. Also ran an die Buletten. Auf Grund des säuerlich, beißenden Geruchs müssen sich alle die Nasen zuhalten, damit es ihnen nicht wie Flauschi und von Piss ergeht. Wieder wird mehrstimmig nasal ein Putzplan besprochen. Beunruhigeender Weise telefoniert ein Nachbar währenddessen, der eben noch ordentlich auf die Pauke für den Auftritt der Tierärztin gehauen hat, mit der Vermieterin, um sich über den Lärm, den Gestank und das Halten von zwei Katern – das in diesem Haus strikt untersagt ist – zu beschweren. Mit einem zufriedenen Grinsen legt er auf und greift direkt zum Schlegel, um erneut auf die Pauke zu hauen. Auftritt der Vermieterin. Mit ihrem eiskalten Anwalt im Schlepptau, der nie ein Wort sagt und sich selbst besingend, tritt die Vermieterin mitten in das stinkende Geschehen. Unmissverständlich und unter stetem Abnicken des Anwalts stellt sie die Bedingung, dass die Kater bis morgen früh verschwinden müssen. Andernfalls kündige sie Brigitta mit sofortiger Wirksamkeit die Wohnung. Dies sei so möglich, da ihr Anwalt, der Beste der Welt ist. Dann setzt der Paukenschlag wieder ein und wie die Vermieterin und ihr Anwalt aufgetreten sind, treten sie auch wieder ab. Die Trommel verstummt und zurück bleiben zwei sich langsam erholende Kater, zwei sehr erschöpfte Omas, drei noch stärker aufgekratzte Enkelkinder, jede Menge Verwüstung und Gestank und ein riesiges Problem. Doch wo ein Problem ist, ist auch immer mindestens eine Lösung. Und die besten Ideen kommen stets beim Gehen. In diesem Sinne setzen sich alle in Bewegung und packen mit an. Es wird aufgeräumt und geschrubbt bis alles glänzt und nichts mehr stinkt. Doch eine ernstzunehmende Lösung wurde nicht gefunden. Dann klingelt es an der Tür und der Paukenschlag setzt wieder Mal ein. Die Mutter tritt auf. Birgit ist gekommen, um die Kinder samt Flauschi abzuholen. Als Brigitta sie bittet auch Kratzo von Piss mitzunehmen, weigert sie sich konsequent mit den Worten: „Ein Kater macht Ärger, zwei treiben es noch ärger.“ Als der Trommelschlag dann verstummt, sind Brigitta, Ilsegard und Kratzo von Piss wieder alleine und wissen nicht weiter. Beide gesellen sich zu von Piss in sein flauschiges Plätzchen. Wie schön es ist mit einem Kater. Unter dem Schnurren des Tieres schlafen sie schließlich ein. Doch unter dem lauten Schnarchen der Omas macht sich Kratzo von Piss  unbemerkt auf die Socken. Er verlässt die Bühne und nimmt die Trommel mit. Ein Schlag ertönt und der neue Tag ist da. „Guten Morgen Brigitta.“ sagt die eine. „Guten Morgen Ilsegard“ die andere. Auf diese Weise geht unsere gemeinsame Geschichte an dem heutigen Schultag zu Ende.

Die Kinder müssen runter zum Abschlusskreis. Danach sehe ich Amon wieder. Was für ein bunter Tag! Glücklich und bewegt von den Begegnungen und dem gemeinsam Erlebten trete ich aus der Schule. Husch sind Amon und ich um die Ecke, steigen ins Auto, rattern über das Kopfsteinpflaster, biegen um die Kurve, betrachten gerade noch den Ratzeburger See, da sind wir schon zurück in Lübeck, wo der Motor verstummt und die Haustür mit dem bekannten Knall ins Schloss fällt.

 
 
Hinweis: Weitere Berichte über den Boso Tag findet ihr in unserem Wochenrückblick